In der modernen wissenschaftlichen Welt gibt es viele Ansätze für die Untersuchung eines Fachgebiets, aber die gängigsten sind die Methoden der Deduktion und Induktion. Der eine Ansatz führt vom Allgemeinen zum Besonderen, der andere hingegen vom Besonderen zum Allgemeinen. Diese beiden Methoden können auch beim Studium der ältesten Heilkunde der Welt, dem Ayurveda, angewandt werden. Für ein allgemeines Verständnis der Wissenschaft Ayurveda und für ein detaillierteres Studium am Anfang lohnt es sich, eine grundlegende Vorstellung von ihren Hauptbereichen zu bekommen. So versteht man, dass Ayurveda eine umfassende Wissenschaft ist und nicht nur aus einer Reihe von nützlichen Tipps aus der Hausapotheke besteht.
Leider haben die meisten Menschen heute ein falsches Bild von dieser Wissenschaft, viele gehen den Weg der Selbstdiagnose und Selbstbehandlung. Wenn man dieses oder jenes Mittel nach dem Motto kauft: „Hier steht, dass es für das Herz gut sein soll, also wird es auch für mich gut sein“, erkennt man nicht, dass Ayurveda die Ursache der Krankheit behandelt, nicht die Wirkung. Die vom Ayurveda-Facharzt verordnete Kur besteht meist aus der Einnahme mehrerer Mittel in Kombination mit Reinigungs- und anderen Maßnahmen. Der vorliegende Beitrag soll nicht nur die wichtigsten Hauptbereiche des Ayurveda beschreiben, sondern auch die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes im Ayurveda bei der Behandlung von diagnostizierten Krankheiten hervorheben.
Tridosha — ein zentrales Konzept des Ayurveda
Ein grundlegendes Konzept im Ayurveda ist das Konzept der drei Doshas. Doshas sind die ursprünglichen Qualitäten eines Menschen, die sich in jedem Körper in unterschiedlichen Anteilen manifestieren. Es gibt insgesamt drei: Vata, Pitta und Kapha. Diese Kombination wird „Tridosha“ genannt. Tridosha ist nicht nur für den Zustand des Körpers verantwortlich, sondern auch für das Funktionieren von Gehirn, Geist, Gefühlen und Emotionen. Das Hauptziel des Ayurveda ist es, alle drei Doshas in den Zustand zu bringen, der dem Zustand des Menschen bei seiner Geburt entspricht. Wenn dieses Ziel erreicht ist, kann die Person nicht nur ihre Krankheit überwinden, sondern erlangt auch seelisches Gleichgewicht. Es muss erwähnt werden, dass die Emotionen und Stimmungen einer Person eine nicht geringe Rolle im diagnostischen Prozess spielen.
Der berühmte Yogi Krishnamacharya erzählte zum Beispiel, dass ayurvedische Ärzte der Vergangenheit ihr Gespräch mit dem Patienten mit den Worten begannen: «Wie ist Ihre Stimmung heute?». Sie wussten genau, dass die mentale Einstellung eine Vorstufe für eine beginnende Krankheit sein kann. Es wird deutlich, wie stark Gesundheit und emotionales Wohlbefinden zusammenhängen. Die Kenntnis der Doshas, zusammen mit Informationen darüber, wie sich der Patient fühlt, ermöglicht es, recht schnell herauszufinden, welches Dosha aus dem Gleichgewicht geraten ist und wie es wieder in Harmonie gebracht werden kann. Dies wird auf verschiedene Arten erreicht, die alle in den entsprechenden Abschnitten des Ayurveda beschrieben werden. In einem der grundlegenden Werke über Ayurveda, der Charaka-Samhita, heißt es, dass es insgesamt acht Zweige des Ayurveda (chikits oder Therapien) gibt, die zusammen Ashtanga Ayurveda genannt werden. Im Folgenden wird jeder Punkt einzeln beleuchtet.
Kaya Chikitsa
Dieser Begriff bezieht sich im Ayurveda auf die allgemeine Therapie, d.h. die Behandlung von Krankheiten, die den ganzen Körper betreffen. Solche Krankheiten betreffen nicht nur ein einzelnes Organ, sondern schädigen den ganzen Körper als Ganzes. Diese Disziplin ist eine der wichtigsten Disziplinen im Ayurveda. Sie befasst sich nicht nur mit den Symptomen einer Krankheit und mit ihren Ursachen, sondern auch mit der Vorbeugung eines erneuten Auftretens. Eine der wichtigsten Behandlungen besteht darin, die Ernährung umzustellen, um Agni, das innere Verdauungsfeuer, zu normalisieren. Der Weise Charaka stellte fest, dass ohne eine richtige Ernährung weder ein guter Arzt noch die wirksamste Medizin helfen. Auch die Anpassung des Lebensstils ist ein wichtiger Bestandteil der Behandlung.
Shalya Chikitsa
Dieser Abschnitt des Ayurveda befasst sich mit der Chirurgie. Der Name leitet sich von dem Sanskrit-Wort „shalya“ ab, das jeden Fremdkörper bezeichnet, der in den menschlichen Körper eingedrungen ist und unangenehme, schmerzhafte Empfindungen verursacht. Dieser Bereich ist jedoch nicht auf die Chirurgie beschränkt, sondern umfasst auch Kenntnisse in der Geburtshilfe. Hier wurden Methoden entwickelt, um verschiedene Stoffe aus dem Körper zu entfernen. Ein echter Spezialist auf diesem Gebiet wird den Patienten von Eiter befreien und Blutungen stoppen. Zu diesem Zweck verwenden die Ärzte spezielle Instrumente und Ätzverfahren sowie Heilmittel, die Kshara (Lauge) enthalten. In der Praxis werden auch spezielle Verbände verwendet. Viel Aufmerksamkeit wird zudem der postoperativen Erholungsphase gewidmet. Der chirurgische Eingriff wird in den Shalya Chikitsa-Texten des Weisen Sushruta beschrieben.
Er wird zu Recht als der Vater der ayurvedischen Chirurgie bezeichnet. Der Meister spricht von 101 Yantras (Instrumenten) und teilt sie in sechs Klassen ein: kreuzförmige (Swastika), längliche (Samdasa), mit flachen Enden (Tala), flache (Nadi), stabförmige (Shalaka) und zusätzliche (Upayantra) Instrumente. Dort sagt Sushurta auch, dass es acht Arten von chirurgischen Techniken (shastakarm) gibt: schneiden, herausschneiden, schaben, durchstechen, einstechen, herausziehen, absaugen und nähen. Interessanterweise wenden die Ärzte von heute dieselben Techniken an. Der Weise spricht auch über die Notwendigkeit einer Anästhesie und rät, dass die Behandlung in drei Phasen erfolgen sollte: purvakarma (präoperative Behandlung), pradhana karma (Operation) und pashchatkarma (postoperative Erholung).
Urdhwanga Chikitsa
Urdhwanga Chikitsa ist der Abschnitt, der sich mit Erkrankungen der Organe am Kopf befasst. Dazu gehören die modernen Fachgebiete Augenheilkunde, Zahnheilkunde und Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde.
Bala Chikitsa
Dieser Abschnitt des Ayurveda ist der Kinderheilkunde gewidmet. Dabei geht es jedoch nicht nur um die Behandlung von Kinderkrankheiten, sondern auch um die Ernährung, die richtige Pflege und Erziehung von Kindern. Die Experten messen der Qualität der Muttermilch große Bedeutung bei, da sie der Meinung sind, dass eine schlechte Milch dazu beiträgt, dass ein Kind nicht gesund aufwächst. Bala Chikitsa deckt den Zeitraum von der Schwangerschaft bis zum Erwachsenwerden des Kindes ab. Bemerkenswert ist, dass dieser Bereich im Buddhismus „Charaka Chikitsa“ genannt wird und als äußerst wichtig gilt. Es heißt, dass die besten ayurvedischen Kinderärzte aus dem indischen Bundesstaat Kerala stammen: Dort hat sich die Kinderheilkunde verbreitet und dort hatte man gelernt, mit komplexen Krankheiten wie Polio umzugehen.
Graha Chikitsa
Graha Chikitsa ist der recht umfangreiche Abschnitt, der sich mit der Psychiatrie befasst. Nach Ansicht von Ayurveda-Experten treten psychische Probleme meist dann auf, wenn ein Patient von bösen Geistern heimgesucht wird. Wie andere Krankheiten kann man auch psychische Probleme loswerden, zum Beispiel indem man den Göttern und Gandharvas (Halbgötter) Opfergaben darbringt. Neben solchen traditionellen Methoden werden auch vertraute Methoden wie Psychotherapie und Hypnose eingesetzt.
Damishtra Chikitsa
In diesem Abschnitt geht es um den Umgang mit Vergiftungen und um die Heilung bei einem Biss einer Giftschlang oder dem Stich eines Skorpions. Krankheiten, die durch Tierbisse verursacht werden, und Viruserkrankungen, die über die Luft oder das Wasser übertragen werden, wurden in der Damishtra Chikitsa eingehend erforscht. Dabei wird auch eine Entgiftungstechnik namens Visha Chikitsa beschrieben.
Rasayana Chikitsa
Dies ist wahrscheinlich der Teil des Ayurveda, der den Menschen im Westen am besten bekannt ist. Hier geht es um die die Geheimnisse der Verlängerung und den Erhalt von Jugend und Langlebigkeit. Häufig werden Verfahren aus diesem Fachgebiet in verschiedenen Spas durchgeführt, obwohl die Qualität dieser Art von Dienstleistungen manchmal fragwürdig ist. Ölmassagen und verschiedene Behandlungen wie kosmetische Verfahren werden von vielen Menschen geschätzt.
Im Ayurveda heißt es, dass die menschlichen Zellen im Laufe der Zeit verschiedene Veränderungen durchlaufen. Mit zunehmendem Alter beginnt der Körper, sie abzubauen. Die Aufgabe von Rasayana ist es, diese Veränderungen zu reduzieren und den Körper zu verjüngen. Massagen, Medikamente und Cremes sowie Bäder werden zu diesem Zweck eingesetzt.
Es ist bemerkenswert, dass Rasayana schon seit geraumer Zeit bekannt ist. Der berühmte Gelehrte und Reisende Al-Biruni sagte über Indien, dass die Hindus über geheimes Wissen verfügten, das der Alchemie ähneln würde. Die Methoden, die dabei angewandt wurden, so versicherte er, seien sehr eigenartig gewesen: Sie bestanden darin, verschiedene Tränke aus Kräutern herzustellen und sie für verschiedene Prozeduren zu verwenden. Vor Birunis Augen seien neues Leben und Jugend in die Ältesten zurückgekehrt.
Vajikarana Chikitsa
Dieser Abschnitt des Ayurveda widmet sich der Wiederherstellung der Fortpflanzungsfunktion bei Männern und Frauen. Darüber hinaus befasst sich Vajikarana auch mit der Beziehung zwischen den Geschlechtern, sexueller Enthaltsamkeit und anderen verwandten Themen.
Nach einer kurzen Analyse der einzelnen Bereiche des Ayurveda kann man feststellen, dass diese Wissenschaft mit allen Lebensbereichen und mit der Gesundheit des Menschen vom Moment der Empfängnis bis ins hohe Alter befasst. Für jede Lebensphase eines Menschen bietet Ayurveda je nach Gesundheitszustand die optimale Ernährung, Lebensweise und körperliche Betätigung. Der Ayurveda-Arzt wählt eine einzigartige Kombination aus Heilmitteln und verschiedenen Verfahren und Anwendungen aus, die auf den Patienten individuell abgestimmt sind und die eine hervorragende Vorbeugung gegen verschiedene Krankheiten darstellt. All dies kann aber nur ein kompetenter Ayurveda-Spezialist ermöglichen.
Es gibt viele nützliche, aber komplexe Verfahren in dieser Wissenschaft, die nur von einem hochqualifizierten Experten durchgeführt werden können. Er geht das Problem einer Person, die sich an ihn wendet, stets ganzheitlich an. Die Aufgabe des Arztes ist es, die Krankheit zu besiegen und zu verhindern, dass sie zurückkommt. Dies ist möglich durch die richtige Ernährung, die Anwendung der richtigen Mittel und Verfahren und die richtige Erholung nach der Genesung.